Das Meisterwerk von Henri Matisse

Kaum zu glauben, aber wahr: Inmitten der Provence steht das Kunstwerk, das Henri Matisse selbst als sein Meisterwerk betitelte. Dabei ist es so anders als alles, was der Künstler zuvor geschaffen hat. Gleichzeitig steht es für die Begeisterung, die Matisse in seinen fast 40 Jahren, in denen er in der Nähe von Nizza wohnte, für die Provence und vor allem für die Côte entwickelt hat. Wo sein Aufenthalt an der Mittelmeerküste in den ersten Jahren von Zweifel geprägt war, entbrannte bald eine neue Leidenschaft von Matisse, die er schließlich mit der Gestaltung der „Chapelle de Rosaire“ finalisierte. Gemeinsam mit Picasso und Renoir gehört Matisse damit zu der berühmten Künstlergruppe, die sich Anfang des 20. Jahrhundert in die Provence verliebten und von Paris an die provenzalische Mittelmeerküste zogen. Sie machten die Provence zu einem Künstlerort sondergleichen und kamen nicht selten zusammen, um gemeinsam die bezaubernde provenzalische Landschaft zu malen.

Matisse Liebe zu Nizza

Fast 40 Jahre seines Lebens verbrachte Henri Matisse in der Provence und das hauptsächlich in der Region der südfranzösischen Metropole Nizza. Doch eigentlich war der Aufenthalt an Mittelmeerküste mit ihrem wohltuenden Klima anfangs nur als zeitweiliger Kuraufenthalt gedacht. 1916 riet der Hausarzt von Matisse dem an Bronchitis erkrankten Künstler zu einer Reise an die Côte, wo sich Matisse kurzentschlossen in einem Hotel inmitten von Nizza einquartierte. Hier logierte er mehrere Jahre und pendelte immer wieder zwischen der Küstenstadt und seinem Atelier im Südwesten von Paris hin und her. Im Jahr 1920 erwarb er schließlich eine kleine Wohnung am Place Charles-Félix, im Zentrum von Nizza, und erklärte damit die provenzalische Küstenstadt zu seinem neuen Wohnsitz.

Allerdings war Matisse selbst, nachdem er sich in Nizza ein seiner eigenen Wohnung niedergelassen hatte, seinerseits häufig auf Reisen. Für ihn war das Entdecken fremder Länder, Traditionen und Landschaften eine wohltuende, entspannende Unternehmung, die seinen Künstlergeist anregte. So reiste er häufig an andere Künstlerorte auf der ganzen Welt und kam dabei nach Italien, New York und Tahiti, aber auch innerhalb Frankreichs besuchte er viele Künstlerfreunde. Ausgangspunkt seiner vielen Unternehmungen war jedoch stets Nizza, wohin er immer wieder zurückkehrte. Nach bewegten Künstlerjahren in den goldenen Zwanzigern, in denen er einige große Projekte realisierte und nicht dauerhaft in Nizza war, kehrte er mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wieder in seinen sicheren Rückzugsort nach Nizza zurück. Allerdings bezog Matisse 1938 ein neues Zuhause im Stadtteil Cimiez, im Nordosten Nizzas. Mit diesem Umzug begann der dauerhafte Aufenthalt von Matisse in der Provence, in der er bis zu seinem Lebensende leben sollte.

Doch schon drei Jahre nach seinem Umzug nach Cimiez erkrankte Matisse an Zwölffingerdarmkrebs und überlebte nur knapp dank schwieriger Operationen im Krankenhaus von Lyon. Aufgrund seiner schweren Krankheit verbrachte er fast ein halbes Jahr in Lyon; weit entfernt von seinem geliebten Nizza. Von der Krankheit geschwächt durfte er schließlich im Mai 1941 wieder nach Cimiez zurückkehren, wo er vom Krankenbett aus endlich wieder anfangen konnte zu malen. Langsam kam der Künstler, wie schon in seiner Anfangszeit in Nizza in den 1920er, dank des wohltuenden provenzalischen Klimas, wieder zu Kräften. Doch 1943 konnte Matisse sich auch nicht mehr in Cimiez sicher fühlen, denn das Örtchen wurde von einem schweren Luftangriff getroffen. Geschützt von dem „Montagne du Baou“ in der Nähe des kleinen Dörfchens Vence bezog Matisse einen Traum von Villa, das Anwesen „le Rêve“ (der Traum). Hier gelang es Matisse neue künstlerische Kreationen zu erschaffen und sich auszuprobieren und so begann er mit dem außergewöhnlichen Buchkunstwerk „Jazz“, das er 1947 veröffentlichen sollte. Allerdings sollte „le Rêve“ nicht seine dauerhafte Unterkunft sein, denn kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges traute sich Matisse wieder nach Cimiez in Nizza und bezog abermals das Hotel „Régina“. Nichtdestotrotz sollte ihn Vence maßgeblich geprägt haben. Denn ein Jahr bevor er wieder nach Nizza zurückkehrte, wurde er von den Dominikanerinnen des Nonnenklosters in Vence damit beauftragt für sie eine Kapelle zu entwerfen. Es sollte sein Meisterwerk werden, wie Matisse seinen Entwurf der Rosenkranzkapelle selbst bezeichnete. Mit vollem Eifer begann der Künstler daher mit der Planung der Dominikanerinnenkapelle, die 1951 eingeweiht wurde. Während seiner Arbeit blieb Matisse stets in Nizza, denn Vence ist nicht allzu weit von der Metropole entwerft und der Künstler konnte sich nicht von seiner geliebten Stadt trennen. Nur wenige Jahre nach der Vollendung seiner angepriesenen Kapelle starb Matisse 1954 in Nizza und wurde, als Würdigung der Stadt Nizza für ihren Ehrenbürger, am höchsten Punkt des Friedhofs von Cimiez begraben.

„Nizza-Periode“

Matisse folgte mit seinem Umzug an die provenzalische Mittelmeerküste einigen Künstlergenies seiner Zeit, die es ebenfalls aus der Kunsthauptstadt Paris in den Süden Frankreichs gezogen hatte. So besuchte er regelmäßig den Impressionisten Auguste Renoir, der bereits 1892 zur Linderung seiner gesundheitlichen Leiden, wie Matisse, in die Nähe von Nizza in ein altes Landhaus gezogen war. Gemeinsam betrachteten und malten die beiden Künstler die herrliche Landschaft von dem wunderschönen Garten aus, in dem Renoir nach seinem Umzug die meiste Zeit verbrachte. So war Matisse, bevor er sich in einer Wohnung in Nizza niederließ, oft bei Renoir und hatte sich Rat bei dem erfahrenen Künstler geholt, zu dem er aufblickte. Matisse selbst galt jedoch auch einem anderen berühmten Künstler als Vorbild, der ihn wiederholt in Nizza besuchte. Pablo Picasso schaute zur Kunst von Matisse auf und schwärmte ebenfalls schon seit seiner Jugendzeit für die Provence. Schon oft hatte er die verschiedensten Landschaften der Provence bereist, doch begann er nach dem Ersten Weltkrieg wiederholt die Mittelmeerküste zu besuchen. So sollte sich Picasso einige Jahre später in dem Küstenort Antibes niederlassen, womit er Matisse und Renoir folgte. Bevor sich der spanische Maler jedoch fest in der Provence installierte, besuchte er häufig Matisse, dessen Kunststil ihn inspirierte und in seiner späten Kunstperiode beeinflusste. Die Verbundenheit und der gegenseitige Einfluss von Matisse und Picasso wird in gemeinsamen Ausstellungen deutlich sowie den regelmäßigen gegenseitigen Besuchen und Ratschlägen. Die Region um Nizza herum wurde mit dem Herziehen der vielen Künstler an die Küste zu einem neuen Montparnasse.

Sein Umzug nach Nizza und der damit einsetzenden Besserung seines Gesundheitszustandes spornte Matisse zu neuen Werken an. Die provenzalische Natur, der enge Austausch mit Renoir, der von dem provenzalischen Licht schwärmte, und das mediterrane Klima inspirierte Matisse zu neuen künstlerischen Experimenten. Nicht nur in der Malerei probierte sich der begabte Künstler aus, sondern spielte er mit allerlei künstlerischen Disziplinen von Musik über Literatur bis Theater und verband dabei häufig die verschiedenen Künste miteinander. Seine entflammte Liebe für Nizza und die Umgebung ließen seinen Künstlergeist nur so aufblühen, weshalb die Kunstgeschichte heute eine seine Perioden ehrwürdig als die „Nizza-Periode“ bezeichnet. Es ist die Hommage an die treibende Kraft, die Matisse zu neuen Werken anspornte. In der Zeit von 1917 bis 1929 erkennt man klassische Elemente der Provence in Matisse Werken, die eindeutig auf den Einfluss hinweisen, die sein neuer Wohnraum auf ihn hatte. Vor allem die provenzalische Landschaft, aber auch die Provenzalen selbst wurden Motive von Matisse. Die Nizza-Periode zeichnet sich daher durch seine vielen Portraits, Stillleben und Landschaftsmalereien aus. Gleichzeitig war Matisse wahrscheinlich von der künstlerischen Schönheit der Provence so fasziniert, dass er begann, zunehmend naturalistisch zu malen und die provenzalische Natur möglichst wahrheitsgetrau dazustellen. Er entdeckte die leuchtenden Farben und vielen Muster der Provence für sich, denn seine Werke dieser Zeit sind durch auffallend detaillierte und farbige Hintergründe geprägt. Man geht davon aus, dass er sein Atelier in Nizza sogar mit den bunten provenzalischen Stoffen und anderen traditionellen Weberkunstwerken der Region aushängte, vor denen er geschickt seine Modelle platzierte. Allein der Titel seines bedeutendsten Werkes dieser Periode beschreibt Matisse Nizza-Stil in ein paar Worten: „Dekorative Figur vor ornamentalem Hintergrund“ heißt das Gemälde, in dem Matisse 1926 sein Modell Henriette Darricarrère, eine gebürtige Niçoise (Nizzaerin), verewigte. Darricarrère sitzt vor einem mit bunten Stoffen ausgelegten Hintergrund, umgeben von leuchtenden Blumen und wilden Pflanzen, die allesamt den Einfluss der leuchtenden provenzalischen Farben und Landschaften auf Matisse in dieser Periode zeigen. 

Die „Chapelle Matisse“

Es ist das Meisterwerk von Matisse, wie der Künstler sein Spätwerk selbst beschreibt. Dabei ist es ein neues Konzept von Matisse, der sich hier in für ihn bis dato fremde Sphären der Kunst wagt und trotzdem einiges seines berühmten fauvistischen Stils bewahrt. Außerdem ist es das wohl letzte große Projekt von Matisse, in dem er sein Leben und sein künstlerisches Schaffen resümiert. Die Rosenkranzkapelle in Vence, die „Chapelle du Rosaire de Vence“, scheint von Weitem ein einfaches, schlichtes Gebäude zu sein. Doch hier, hoch oben in den Alpes Maritimes zwischen Cannes und Nizza in dem kleinen Dörfchen Vence steht das selbsternannte Hauptwerk von Matisse. Der Künstler selbst hatte einige Jahre in dem Örtchen nahe Nizza gewohnt, als er sich vor der Gefahr des Zweiten Weltkrieges in die Meeralpen flüchtete. Mit atemberaubendem Blick auf das tiefblaue Wasser der Côte regte der zunächst aus der Not heraus entstandene Aufenthalt in Vence sich tiefgreifend auf Matisses künstlerisches Schaffen aus. Zwar zog er wieder in seine geliebte Stadt Nizza, doch blieb er dem kleinen Vence trotzdem treu. Mit großer Hingabe widmete er sich der Planung und dem Bau der Kapelle des Dominikanerinnenklosters in Vence, die ihn mehr als vier Jahre lang beschäftigen soll. Gleichzeitig ist es nicht nur eine Geschichte der Kunst, sondern zeigt Matisse neues Interesse für die Religion, die er mit seinem künstlerischen Schaffen verbinden wollte.

Doch die Konstruktion der Rosenkranzkapelle beginnt nicht erst mit der offiziellen Beauftragung Matisse im Jahr 1948, sondern schon einige Jahre früher. Als Matisse 1941 schwer erkrankte schätzte er vor allem die Hilfe der Krankenschwester Monique Bourgeois, die ihm während seiner Genesung deutlich zur Seite stand. Auch nach der Genesung blieben die beiden in engem Kontakt, so saß Monique Matisse Modell und arbeitete mit ihm an seinem Künstlerbuch „Jazz“. Moniques strenge, christliche Überzeugung brachte auch Matisse zum Nachdenken über Religion und Glauben – Themen, die sich auch in dem Kunstbuch Jazz wiederfinden lassen. Monique tritt 1946 in das Dominikanerinnenkloster in Vence ein, wo sie als Nonne den Namen „Sœur Jacques-Marie“ trägt. Trotz der Abgeschottenheit des Klosters halten Monique und Matisse weiterhin engen Kontakt und tauschen sich über alle möglichen Themen per Brief aus, in denen ihre tiefe Freundschaft immer wieder zum Ausdruck kommt. Schwester Jacques-Marie bleibt jedoch ihrer Leidenschaft für die Kunst treu, die sie mit Matisse verbindet. So ist sie zuständig für die Gestaltung der neuen Kapelle des Klosters und entwirft zunächst eigene Pläne. Doch niemand anderen könnte sie in diesem künstlerischen Projekt besser um Rat fragen als ihren Künstlerfreund Matisse. Dieser ist sofort begeistert von dem architektonischen Kunstwerk, das es in Vence zu entwerfen gilt. So bietet er selbst an, die künstlerische Planung des Klosters in die Hände zu nehmen und beginnt mit Entwürfen für die gesamte Kapelle von dem Gebäude über die Fenster bis hin zur Innenausstattung. Unterstützt wurde Matisse dabei weiterhin von den Dominikanerinnen, doch auch durch andere Geistliche wie dem Bischof von Nizza, Monseigneur Rémond, der am 11. Dezember 1949 den Grundstein der Kapelle legte. Vier Jahre lang, von 1948 bis 1951, nahm das Projekt in Vence Matisse künstlerische Fähigkeiten ein. Die lange Periode ist dessen geschuldet, dass er selbst zum ersten Mal ein bildnerisches Kunstwerk in seiner Gesamtheit schuf, von der Architektur über das Mobiliar und die Dekoration bis hin zur Außenfassade mit seinen spektakulären Glasfenstern. Zu Hilfe kam ihm, neben der Unterstützung der lokalen Geistlichkeit, die Architekten Auguste Perret und Milon de Peillon, die Matisse beide für ihre architektonische Kunst schätzte. Gleichzeitig legte Matisse Wert darauf, dass Handwerker aus Venedig sich der Umsetzung seiner Pläne widmete, denn für Matisse waren die Venediger für ihr Geschick im Kirchenbau berühmt. Am 25. Juni 1951 wurde die Chapelle du Rosaire feierlich eingeweiht, doch konnte Matisse aufgrund seiner zunehmend schweren Krankheit nicht an der Einweihung teilnehmen. Trotzdem war er bei diesem wichtigen Ereignis omnipräsent, so las nicht nur Pater Couturier einen Brief mit den Worten von Matisse vor, sondern kann man den Künstler in jeder Ecke der Kapelle spüren, in der er seinen Stil finalisierte.

Das Merkmal der Rosenkranzkapelle ist seine wunderschöne, leuchtende Glasfront, die in einem umwerfenden Kontrast zu dem hellen Stein, aus dem das Gebäude geformt ist, steht. In den Fenstern vereint Matisse seine Liebe zur Provence mit Hilfe der Farben der Provence, die den Künstler schon seit seiner Ankunft so sehr an der Region begeistert haben: grünes Glas für die herrliche provenzalische Natur, gelbes Glas für das sanfte Licht der Provence und blaues Glas für den tiefblauen, mediterranen Himmel. Durch farbigen Glasfenster strahlt die provenzalische Sonne und taucht das weiße Innere der Kapelle in ein unvergleichliches Farbspektakel. Matisse schafft es damit, ein bewegtes und lebendiges Kunstwerk zu schaffen, dass aus allen Ecken und Winkeln unterschiedlich wirkt. Seine Künstlergenie kommt hier, in dieser lebhaften Komposition, beispielslos zum Ausdruck. Für Matisse selbst war der Bau der Kapelle eine völlig neue Herausforderung, die er jedoch nach seinem bewegten Leben dankend annahm, um der Welt seine künstlerische Berufung auf spektakuläre Art und Weise vorzuführen. In dem Kapellenbau sah er den Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens, denn hier konnte er all das, was ihn in seinen Lebensjahren zu Ruhm verhalf, im Plastischen und zum Greifen nahe gestalten. Für Matisse selbst war das Entwerfen der Kapelle die Erfüllung seines Lebens; hier er konnte endlich seinen Künstlergeist verwirklichen und aufs Vollste seine künstlerische Begabung ausleben. Es ist die Krönung seines Spiels mit Farben, Licht und Formen, die nach Matisse eigener Auffassung endlich in der Kapelle zueinanderfinden können. Der Künstler selbst bezeichnet die Chapelle du Rosaire als sein „chef d´œuvre“ – sein Meisterwerk.


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