Les Navettes

Süße Schiffchen tauchen am Horizont des Mittelmeeres auf, laufen in den Hafen von Marseille ein und versprühen einen herrlichen Duft von Orange in der gesamten Provence – das sind die kleinen Navettes. Aber nicht falsch verstehen. Trotz ihres Namens handelt es sich bei der provenzalischen Spezialität nicht um Fischerboote, sondern um wundervolle Kekse, die ihren Namen ihres auffallenden Aussehens in Form eines Schiffchens zu verdanken haben. Durch und durch erinnern diese fabelhaften Kekse an die provenzalische Einfachheit – in ihren Zutaten und ihrer Zubereitung. Doch so einfach ihre Herstellung auch sein mag, ihre Geschichte ist dafür umso mysteriöser. Es ranken sich einige Mythen um die Schiffskekse, die durch ihre bedeutende Symbolik nicht nr eng mit dem Meer und der Schiffsfahrt verbunden sind, sondern ebenso die provenzalische Kultur und Tradition auf einzigartige Weise verkörpern.

Herkunft

Die kleinen provenzalischen Kekse kommen ursprünglich aus Marseille, der wohl bedeutendsten Hafenstadt am Mittelmeer und gleichzeitig Hauptstadt der Provence. Nicht überraschend ist es daher, dass „navette“ übersetzt Bötchen oder kleines Schiffchen bedeutet. Denn tatsächlich: Die feinen festen Kekse ähneln in ihrer Form jenen der kleinen Schiffchen, die man zuhauf in den Marseiller Häfen findet.

Allerdings rangen insbesondere um die außergewöhnliche Form des Gebäcks allerlei Legenden. Die geläufigste Geschichte führt jedoch nicht nach allein nach Marseille. Sie beginnt in dem kleinen Wallfahrtsort Saintes-Maries-de-la-Mer, der gleichzeitig Innbegriff der Camargue und jährlich zweimal Ziel der Pilgerfahrt der Gitans zu Ehren drei verschiedener Heiliger ist. Im ersten Jahrhundert nach Christus soll hier ein Boot, genauer gesagt eine Navette, die Ufer der Provence angelaufen haben. An Bord befanden sich Glaubensflüchtlinge aus der Heiligen Land, die sich aufgrund der Christenverfolgung aus Palästina auf den Weg über das Mittelmeer machten. Unter ihnen befanden sich drei Frauen, die später als Heilige in die Glaubensgeschichte eingehen sollten: die Heilige Maria Jakobäa und die Heilige Maria Salmone gemeinsam mit ihrer Zofe, der Heiligen Sara. Ihrer sicheren Ankunft verdankt nicht nur Saintes-Maries-de-la-Mer bis heute einiges, sondern ist die Reise der drei Heiligen ebenso für die gesamte Provence von großer Bedeutung. Dabei ist das Schiffchen, in dem die Frauen sichere Zuflucht fanden und das sie unversehrt an die Küste der Camargue brachte, von besonderem symbolischen Charakter und gilt nicht nur für die Seefahrer als Schutzzeichen. Unter der schützenden Hand dieser Symbolik war es der Bäcker Anveyrous, der einige Jahrtausende später seinen Keksen die Bootsform verlieh.

Doch nahm der begabte Bäcker seine Idee für seine Keksform vielleicht doch von einem näher gelegenen Ereignis? Eine andere Legende besagt, dass der die Orangenkekse ihre Form von einem anderen „Navette“-förmigen Schutzzeichen der Kleinhandwerker stammt. Im 13. Jahrhundert zerschellte in der Calanque von Lacydon, dem Alten Hafen von Marseille, eine auffallend eindrucksvolle Statue der Jungfrau Maria in allerlei verschiedenförmige Einzelteile. Dieses Ereignis nahmen die Handwerker von Marseille, wo es sich zum Großteil um Schiffsleute handelte, als Symbol des Schicksals, als Zeichen des Schutzes ihres sicheren Hafens, auf. Schutzvoll soll daher in Erinnerung an dieses Ereignis in Marseille alles sein, was die Form eines Navette-Bötchens hat. Woher der Zusammenhang zwischen der Form und der Marienstatue kommt, bleibt jedoch bis heute ebenso ein Mysterium wie die Inspirationsquelle für die Navette-Kekse.

Woher Monsieur Anveyrous letztlich die Idee für die Form seines Gebäcks nahm, bleibt bis heute ein gut behütetes Geheimnis. Feststeht nur, dass der Bäcker die kleinen bootsförmigen Kekse, die nach Orangenblüten duften, 1781 in seiner Backstube erfand. Seither backen im „Four des navettes“ die delikaten Plätzchen. Das einstige Backhaus von Anveyrous ist noch heute zu besuchen, um die Navettes aus ihrem Geburtshaus zu kosten. In der ältesten noch betriebenen Bäckerei von Marseille sind damit die Navettes zu einer wahrlichen Institution im Herzen der Stadt und ihren Bewohnern geworden.

Tradition

Die Navettes scheinen damit eng mit der Figur der Maria verbunden zu sein, ganz egal, welcher Legende man glauben mag. Daher ist es nicht überraschend, dass die feinen Plätzchen traditionell zu Ehren ihrer Schutzpatronin gebacken werden. Jährlich am 2. Februar ist es soweit: An „Chandeleur“, Mariä Lichtmess, genau 40 Tage nach Weihnachten wird in ganz Frankreich Crêpes gegessen, einem der wohl bekanntesten Delikatessen der französischen Küche. Marseille und ihre Umgebung nehmen jedoch eine Sonderstellung ein. Hier kommt für eines der ältesten Feste der Christen kein hauchdünner Crêpe auf den Tisch, sondern schiffsförmige Plätzchen mit dem Duft von Orange.

Für viele in Marseille sind Navettes dabei fest mit einem bedeutsamen Viertel ihrer geliebten Stadt verbunden: der Kirche Saint-Victor und dem Alten Hafen. Vermutlich rührt von hier die zweite Legende der gefallenen Marienstatue, zu deren Ehre die Monsieur Anveyrous das langestreckte Gebäck erfand. An Maria Lichtmess findet eine ganz besondere Messe in der ältesten Kirche von Marseille statt. Der 2.2 beginnt mit der „l´octave de la Chandeleur“, bei der die berühmte schwarze Jungfrau mit grünen Kerzen in einer Prozession von der Kirche aus durch die Stadt getragen wird. Ende der Prozession ist traditionell der „Four des navettes“ gleich neben der Abtei Saint Victor, genau der Backstube, in der einst die Schiffchenkekse das Licht der Welt erblickten. Die alte Bäckerei gehörte einst zur Abtei. Die Navettes wurden damit in dem heute über 230 Jahre alten Ofen erfunden, der unter dem Segen des Erzbischofs von Marseille steht. Damit lässt sich vielleicht doch das Mysterium um die sagenumwobenen Plätzchen lösen, ist die Verbindung der Kirche Saint-Victor und damit auch seiner Bäckerei zum Alten Hafen mit seiner Seemannsgeschichte um die zerschellte Statue der Heiligen Jungfrau Maria nicht weit hergeholt. Bäcker Anveyrous schaffte es nicht destotrotz mit seinen wunderbaren Keksen die Herzen der Marseillais zu erobern und dabei eine einzigartige Tradition zu etablieren, die die Provence im Zuge des in ganz Frankreich etablierten Fest der Mariä Lichtmess seither herausstechen lässt.  

Herstellung

Ist das Geheimnis um sagenumwobene Form der Navettes bis heute mysteriös, so ist jenes seines wundervollen Geschmacks umso einfacher zu lösen. Der Keks aus alter Zeit zeichnet sich dabei nicht etwa durch seine Komplexität, sondern vielmehr durch seine Natürlichkeit und Einfachheit aus. Mit ein wenig Olivenöl, Eiern, etwas Zucker und Mehl lassen sich schnell und einfach herrliche Schiffchen backen, die den Gaumen von Groß und Klein verzaubern. Doch aufgepasst, für das wahrliche Geschmackswunder ist eine kleine Geheimzutat von Nöten: eau de fleur d´orange – Orangenblütenwasser. In den uralten Rezepten verleihen Orangenblüten oder Zitronenschalen den Mürbekeksen eine unvergleichliche neue Dimension – und das ohne Aromastoffe, nur durch die heimischen, wohlschmeckenden Zutaten der Region. Doch damit nicht genug. Heutzutage werden die festen dicken Plätzchen nicht nur mit dem feinen Geschmack der Orange veredelt, sondern bringen vielerlei andere Geschmäcker mit sich, die oftmals ebenfalls ein Stücken Provence in sich tragen. Genießt man die Kekse gerne ganz natürlich ohne Aromatisierung, so ist daneben die Verfeinerung mit Rosenblütenwasser oder Anis beliebt, aber auch Schokoladen-Navettes sind geschätzte Abwechslungen zu den traditionellen Orangen-Keksen. Dabei findet man die süßen Schiffchen nun nicht mehr ausschließlich in Marseille und werden sie ebenso wenig nur am 2.2 gebacken. Vielmehr sind sie zu einer der delikaten Spezialitäten der gesamten Provence geworden und daher in vielen Bäckereien, aber auch in überraschend guter Qualität in den Supermärkten der gesamten Umgebung das gesamte Jahr über zu finden. Außerdem kommt ihnen als regionale Delikatesse eine weitere besondere Stellung in der provenzalischen Tradition zuteil: Navettes sind in provenzalischen Haushalten oft fester Bestandteil der dreizehn Weihnachtsdesserts, die der bedeutendste Teil des wichtigsten Fests der Region und damit der wohl bedeutsamste provenzalische Brauch sind.

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